Pascal Hetze
Projektleiter Hochschul-Barometer
T 030 322982-506
Die Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen, stellt einen gravierenden Einschnitt in der Geschichte der europäischen Integration dar. Seit Vollzug des Austritts Anfang 2021 sind Auswirkungen bereits in Wirtschaft und weiteren Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowohl im Vereinigten Königreich als auch bei seinen europäischen Partnern zu spüren. Auch auf die europäische Hochschullandschaft kommen dabei Veränderungen zu: So nehmen die britischen Universitäten beispielsweise nicht mehr am Studierendenaustauschprogramm Erasmus+ teil und bauen stattdessen auf ein eigenes Format, das sogenannte Turing-Programm. Darüber hinaus erschweren neue Visa-Regelungen für längere Aufenthalte den Austausch von Forscherinnen und Forschern, und der angedachte Verbleib Großbritanniens im neuen Horizon-Europe-Programm zur Forschungsförderung hängt weiter in der Schwebe.
Die durch den Brexit entstandenen Verwerfungen zeigen bereits Auswirkungen: Die Zahl der deutschen Studierenden in Großbritannien hat sich im Vergleich zum Vorjahr halbiert, und seit der Entscheidung zum Brexit verlassen immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Vereinigte Königreich. Doch welche Auswirkungen durch den Brexit erwarten die deutschen Hochschulen zukünftig, von welchen berichten sie schon jetzt?
Um dies herauszufinden, wurden die Hochschulleitungen im Rahmen der Erhebung des jährlichen Hochschul-Barometers des Stifterverbandes und der Heinz Nixdorf Stiftung zu diesem Thema befragt. Die Umfrage fand von November 2020 bis Februar 2021 statt, insgesamt haben sich 182 der 390 angeschriebenen Hochschulen daran beteiligt. Dies entspricht einem Rücklauf von 46,7 Prozent.
Die überwiegende Mehrheit der Hochschulleitungen in Deutschland bewertet den Austritt Großbritanniens als erheblichen Verlust für die europäische Forschungslandschaft. Dem stimmen fast 97 Prozent der befragten Hochschulen zu. Zudem geben neun von zehn Hochschulen an, durch den Brexit wichtige Partnerinstitutionen im Ausland zu verlieren.
Obwohl zu Beginn der Befragung noch die Übergangsphase nach dem Brexit galt, innerhalb der für Großbritannien noch die Regeln der EU galten, berichten etliche Hochschulen bereits von Auswirkungen des nahenden Brexits. Knapp ein Drittel der Hochschulleitungen (32,0 Prozent) gibt an, dass es an ihrer Hochschule bereits zu Schwierigkeiten in der Durchführung oder Planung von Forschungsprojekten mit britischen Partnern kam. Rund jede fünfte Hochschule beobachtet weniger Forschungskooperationen mit britischen Einrichtungen und einen Rückgang bei der Zahl britischer Forschender an der eigenen Hochschule. Die stärksten Veränderungen zeigen sich jedoch im studentischen Austausch. Zwei von fünf Hochschulen berichten von sinkenden Zahlen Studierender aus dem Vereinigten Königreich. Fachhochschulen sind in allen Bereichen stärker betroffen als Universitäten, staatliche Hochschulen mehr als private.
Während die Mehrheit der Hochschulen dennoch bisher keine Auswirkungen des Brexits spürte, wird sich dies nach Erwartung der meisten Hochschulleitungen in Zukunft ändern. Knapp 62 Prozent prognostizieren eine geringere Zahl britischer Studierender. Fast 44 Prozent schätzen, dass die Zahl der Forschenden aus Großbritannien zurückgeht. Zudem erwartet mehr als die Hälfte der Hochschulen eine sinkende Zahl an Forschungskooperationen mit britischen Partnerinstitutionen. Auch hier sind vor allem die Fachhochschulen pessimistisch: Mehr als drei Viertel von ihnen erwarten in fünf Jahren weniger britische Studierende an ihrer Hochschule, 60 Prozent gehen von einem Rückgang der Zahl britischer Forschender aus.
Noch deutlicher werden die Veränderungen der Beziehungen zum britischen Hochschulsystem, wenn man einen Vergleich mit anderen europäischen und außereuropäischen Hochschulräumen vornimmt. Denn der Trend zu mehr Internationalisierung ist aus Sicht der Hochschulleitungen ungebrochen. Trotz der Einschränkungen durch die Pandemie berichten einige Hochschulen von steigenden Zahlen Forschender (11,4 Prozent) und Studierender (14 Prozent) aus anderen Partnerstaaten, zudem geben neun Prozent der Hochschulen an, dass die Zahl der Forschungskooperationen mit anderen Partnern angestiegen ist.
Die Hochschulleitungen erwarten, dass sich die Zahlen in Zukunft weiter verbessern. Die erwartete zurückgehende Kooperation mit den britischen Hochschulen könnte durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit Hochschulen aus anderen EU und Nicht-EU Staaten damit mehr als ausgeglichen werden. Konkret erwartet für die nächsten fünf Jahre etwa die Hälfte der Hochschulleitungen eine höhere Anzahl Studierender aus anderen EU und Nicht-EU-Staaten sowie eine verstärkte Zusammenarbeit in der Forschung mit Hochschulen aus diesen Ländern. Für die Forschenden aus anderen Ländern hoffen immerhin 43 Prozent der Hochschulleitungen auf steigende Zahlen in den nächsten fünf Jahren.
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die aus Großbritannien nach Deutschland wechseln, weil sie in Zukunft in Europa bessere Forschungsbedingungen erwarten oder persönlich ein Leben im Vereinigten Königreich nach dem Brexit als wenig attraktiv empfinden? Britische Hochschulen, die an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, weil internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und zahlungskräftige Studierende seltener nach Oxford oder Cambridge ziehen? Der Brexit könnte sich für deutsche Hochschulen durchaus auch als Vorteil erweisen. Doch eine große Mehrheit der Hochschulen erwartet solche Effekte eher nicht. Mehr als zwei Drittel der Hochschulleitungen glaubt (eher) nicht, dass der Brexit den Wissenschaftsstandort Deutschland stärkt (70,7 Prozent). Zudem erhoffen sich nur etwa 16 Prozent der Hochschulen durch den britischen Austritt eine geringere Konkurrenz in der europäischen Forschungsförderung. Auch was die Attraktivität für internationale Studierende und Forschende angeht, so versprechen sich die Hochschulen wenige Vorteile durch den Brexit. Nur 28,9 Prozent (Studierende) beziehungsweise 21,1 Prozent (Forschende) geben dies an.
Insgesamt überwiegen beim Brexit also die Nachteile auch für die deutschen Hochschulen. Deshalb befürworten fast neun von zehn Hochschulen eine starke Einbindung der britischen Hochschulen in die Förderprogramme der EU auch nach dem Austritt aus der EU (87,6 Prozent). Unter den traditionell forschungsstarken staatlichen Universitäten geben dies sogar nahezu alle Befragten an (97,4 Prozent). Die Hochschulen scheinen sich also in ihrem Urteil, mit dem Brexit wichtige Partner zu verlieren, sehr einig zu sein.
Wie kann eine Zusammenarbeit der Hochschulen in Europa über den Brexit hinaus aussehen? Zum einen erhoffen sich die deutschen Hochschulen, stärkere Kooperationen zu Partnern aus anderen Ländern zu entwickeln, zum anderen bauen sie – trotz des Brexits – nach wie vor auf eine starke Einbindung der Briten. Schließlich gilt es, weiter eng mit einigen der besten Hochschulen weltweit zusammenzuarbeiten. Dafür wird die Stärkung bilateraler strategischer Partnerschaften zwischen Hochschulen umso wichtiger, und es gilt, neue Kooperationsformen mit den Partnerhochschulen zu entwickeln. So entstehen als Reaktion auf den Brexit unter anderem Zweigstellen an Partnerhochschulen oder gemeinsame Forschungsverbünde wie beispielsweise die Forschungspartnerschaft zwischen Berliner Hochschulen und der Universität Oxford.
Einige Hochschulen haben bereits pragmatische Möglichkeiten gefunden, innerhalb des neuen politischen Rahmens zusammenzuarbeiten, beispielsweise durch gegenseitige Reduzierung von Studiengebühren für Austauschstudierende. Darüber hinaus sollten die Hochschulen das Angebot der Briten annehmen, das mit der Entwicklung des Turing-Programms einhergeht. Dieses unterstützt zwar nur britische Studierende könnte aber einen Anknüpfungspunkt für Fördermöglichkeiten deutscher und europäischer Studierender in Großbritannien darstellen. So ist beispielsweise eine Förderung eines Auslandsaufenthaltes von bis zu einem Jahr für deutsche Studierende mittels Auslands-BAföG möglich.
Andere Rahmenbedingungen liegen nicht in der Hand der Hochschulen. So sind verschärfte Visabestimmungen sicherlich hinderlich für den Austausch von Studierenden und Forschenden. Der oft vorhandene persönliche Wille zu Kooperation und die neuen Erfahrungen der Digitalisierung von Forschung und Lehre lassen aber auch hier alle Möglichkeiten zu, die akademischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Europa auch in Zukunft weiter auszubauen.
Projektleiter Hochschul-Barometer
T 030 322982-506
Wissenschaftlicher Referent
T 030 322982-543